“Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.” Friedrich Nietzsche, I, Aph. 483
Wahrheitsskeptizismus
Neben der Skepsis gegenüber den Referenzgegenständen von Aussagen gibt es auch Zweifel hinsichtlich Erforderlichkeit oder Gehalt des Wahrheitsbegriffes. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen formaler und faktischer Wahrheit.
Mit den formalen Aspekten von Wahrheit beschäftigt sich z.B. die mathematische Modelltheorie1. Formale Wahrheit bezieht sich nur auf abstrakte Aussagestrukturen und nicht auf spezifische weltliche Objekte. Es geht um Beziehungen zwischen formalen Sprachen und den sie interpretierenden Strukturen.
Ein Bezug zur Wirklichkeit entsteht erst bei der modelltheoretischen Semantik (Bedeutungslehre), die formale Syntax mit Bedeutungen verknüpft.2
Über die Relevanz der faktischen Wahrheit gibt es erhebliche Kontroversen, die in jüngerer Zeit durch Begriffe wie “post-truth” oder “postfaktisch” besondere mediale Aufmerksamkeit erfahren haben.3
Wahrheitsbegriff
Das Prädikat “wahr” lässt sich in vielen Situationen zwar sprachlich umgehen, indem man einfach sagt, “Es ist der Fall”, “Es trifft zu” oder “Es ist eine Tatsache”. Damit ist der faktische Wahrheitsbegriff jedoch nicht eliminiert, sondern nur in alternative Sprachkonstrukte verpackt.
Die deflationären oder Redundanztheorien der Wahrheit betrachten die Prädikate “wahr” und “falsch” als überflüssig und reduzieren die Aussagen “A ist wahr” bzw. “A ist falsch” auf “A” bzw. “nicht A”.4 Dennoch bleiben die Wahrheitswerte “wahr” und “falsch” bei aussagelogischen Ableitungen kaum verzichtbar. Auch in der Sprechpraxis ist es hilfreich, über wahre und falsche Aussagen reden zu können.
Mit dem Wahrheitsbegriff ist die klassische Aussagenlogik verknüpft, die sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft kaum verzichtbar ist. In einem Strafgerichtsprozess kann es sich z.B. um die Frage drehen, ob eine Person A ein Opfer erschossen hat oder nicht. Nach klassischer Logik kann A das Opfer nicht sowohl erschossen als auch nicht erschossen haben. Dass A das Opfer erschoss, kann also nur entweder wahr oder falsch sein. Um herauszufinden, was davon der Fall ist, befragt das Gericht auch die wissenschaftliche Forensik. Aus bestimmten Tatsachen, etwa Blutspritzer eines bestimmten Musters auf der Kleidung von A mit dem genetischen Profil des Opfers, lässt sich zusammen mit anderen Evidenzen schließen, dass A das Opfer tatsächlich erschoss. Dieser Schluss ist aber nur gültig, wenn auch die Theorie des genetischen Codes als wahr angenommen wird. D.h. ein Strafprozess, der wissenschaftliche Forensik anwendet, muss die Wahrheit dieser Wissenschaft unterstellen.
Was ist “faktisch wahr”?
Es gibt verschiedene Auffassungen darüber, was es bedeutet, dass eine Aussage faktisch wahr ist:
- In der Korrespondenztheorie gelten Aussagen genau dann als wahr, wenn sie mit Tatsachen in der objektiven Realität übereinstimmen (korrespondieren).
- Die Kohärenztheorie betrachtet eine Aussage dann als wahr, wenn sie mit anderen Aussagen in einem maximal logisch stimmigen Zusammenhang steht.
- Die Konsenstheorie der Wahrheit besagt, dass eine Aussage wahr ist, wenn sie von einer Mehrheit oder einem Konsens von Personen anerkannt wird.
- Beim Relativismus ist Wahrheit nicht absolut, sondern relativ zu bestimmten Perspektiven, Kontexten und Rahmenbedingungen.
- Die Standpunkttheorie ist eine Verwandte des Relativismus, bei der Wahrheit von einem individuellen oder sozialen Standpunkt abhängt.
Mehrere Wahrheiten?
Die relativistischen Ansätze verwechseln Wahrheit mit Konzepten wie Meinung, Interesse, Wahrnehmung, Befindlichkeit oder Erfahrungshintergrund. Letztere sind natürlich personenabhängig. So nimmt beispielsweise ein Mensch unter Drogen seine Umgebung anders wahr, als jemand ohne Drogeneinfluss. Es geht aber darum, subjektive Einflüsse herauszurechnen, statt mehrere sich widersprechende Aussagen einfach hinzunehmen.
Es besteht weiterhin die Gefahr des Selbstwiderspruchs. Denn wenn der Relativismus absolut gelten soll, hat er sich damit selbst widerlegt. Schließlich ist der Relativismus ein Offenbarungseid der Wissenschaft, da mit ihm das Programm der Wahrheitssuche aufgegeben wird.
Zwischen mehreren konkurrierenden und inkompatiblen Aussagesystemen kann es auch keine “Wissensgerechtigkeit” geben, denn Wissen ist - unabhängig von unserer Gewissheit darüber - mehr oder weniger objektiv gültig. Nicht das Wissen selbst, sondern dessen Anwendung oder Bezug zur Wirklichkeit kann im Licht bestimmter Ethiken als gerecht oder ungerecht beurteilt werden.
Konsens und Kohärenz?
Ob eine Aussage wahr oder falsch ist, lässt sich nur anhand von Kriterien erschließen, die allesamt fehlbar sind. Ein breiter Konsens über die Wahrheit einer Aussage ist einer dieser Anhaltspunkte. Die Auffassung, Wahrheit sei populäre Zustimmung oder eine soziale Konstruktion, ist jedoch höchst fehleranfällig und als wissenschaftliches Konzept untauglich. Zwar spielt die erreichte Zustimmung und Übereinstimmung in einem argumentativ breit gefächerten Diskurs eine wichtige Rolle in der Wissenschaft. Auf empirische Beobachtungen und analytische Definitionen lässt es sich dennoch nicht verzichten.
Beim Kriterium der Kohärenz hängt die Wahrheit einer Aussage primär davon ab, ob sie sich nahtlos in ein bestehendes System von Aussagen oder Überzeugungen einfügt, ohne Widersprüche zu erzeugen. Logische Kohärenz ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt der Wahrheit eines Aussagesystems. Logik allein reicht jedoch nicht aus. Bei diesem Begriffsverständnis fehlt nämlich der explizite Bezug zur Empirie. Ein weiteres Problem besteht darin, dass es mehrere intern widerspruchsfreie Systeme geben kann, die sich gegenseitig widersprechen. Eine Verschwörungstheorie kann zwar logisch kohärent, aber trotzdem falsch sein.
Wahrheit und Irrtum
Eine Form des radikalen Skeptizismus ist die Ansicht, dass die heutige Wahrheit wohl der Irrtum von morgen sein wird. Immanuel Kant wollte die Newtonsche Physik als absolut wahr beweisen. Im Gegensatz zur Relativitätstheorie liefert sie jedoch falsche Ergebnisse, wenn große Massen oder hohe Relativgeschwindigkeiten im Spiel sind. Die klassische Physik macht auch dann falsche Angaben, wenn es um winzige Quantenteilchen geht.
Gibt es also nichts als Irrtümer? Dieser weitgehende Pessimismus ist jedoch nicht nötig. Es zeigt sich nämlich, dass neue, meist fundamentalere Theorien unter den Bedingungen, unter denen die älteren Theorien gültig waren, zu diesen älteren Theorien konvergieren oder sie als Näherung enthalten. So liefert die spezielle Relativitätstheorie für Geschwindigkeiten, die viel kleiner als die Lichtgeschwindigkeit sind, nahezu identische Ergebnisse wie Newtons Mechanik. Bei großen Quantenzahlen oder makroskopischen Systemen nähert sich die Quantenmechanik der klassischen Beschreibung an (z. B. über das Ehrenfest-Theorem). Das bezeichnet man als Korrespondenzprinzip.
Diese Situation tritt bei sehr allgemeinen Aussagen auf. Ein bloßer Verweis auf “wahr” oder “falsch” reicht hier oft nicht mehr aus. Anstatt Wahrheit als ein Alles-oder-nichts-Prinzip zu verstehen, ist es in solchen Zusammenhängen besser, von partieller oder gradueller Wahrheit5 zu sprechen. Das beseitigt natürlich nicht den Irrtumsvorbehalt, denn auch die Abschätzung partieller Wahrheiten bleibt prinzipiell fehlbar.
Korrespondenztheorie
Wissenschaft hat das Ziel, die objektive Realität bestmöglich zu rekonstruieren - unabhängig von subjektiven Wahrnehmungen, kulturellen Konventionen oder politischer Zwecksetzung. Sie richtet ihren Erkenntnisanspruch nicht auf virtuelle Konstrukte wie die „Matrix“, sondern auf das, was auch ohne Beobachter existiert. Es geht ihr weder um bloßen Konsens noch um die Produktion beliebig vieler widerspruchsfreier Theorienwelten. Persönliche Perspektiven oder moralische Vorannahmen sind ihr nicht Maßstab, sondern Prüfgegenstand. Wissenschaftliche Integrität zeigt sich gerade darin, dass sie sich der Realität beugt - nicht umgekehrt.
Im Rahmen dieses wissenschaftlichen Programms erscheint die Korrespondenztheorie der faktischen Wahrheit daher als das angemessenste Wahrheitskonzept. Zwar bleiben wissenschaftliche Aussagen dadurch fehlbar, aber die konkurrierenden Ansätze können Irrtümer entweder auch nicht ausschließen oder sie verzichten gleich ganz auf den Versuch, objektive Erkenntnis zu erlangen, und tendieren stattdessen zu dogmatischen oder subjektivistischen Ansätzen.
-
“post-truth”, Wikipedia, Oxford Living Dictionaries; “postfaktisch”, Wikipedia. Die Gesellschaft für deutsche Sprache wählte “postfaktisch” zum Wort des Jahres 2016, gfds.de.↩︎
-
Mario Bunge: “Treatise on Basic Philosophy, Vol. 2, Semantics II, Interpretation and Truth”, Reidel, Dordrecht, 1974, 96-97.↩︎